Wer zu Arno Nickel kommt, spielt Schach. Oder möchte es lernen. Oder hat den Laden im Vorbeigehen entdeckt und denkt sich „Ach! Ein ganzer Laden nur für …“
Genau. Hier in der Sophie-Charlotten-Straße 28 gibt es einen ganzen Laden nur zu diesem einen Spiel. Aber schließlich geht es nicht um irgendein Spiel, sondern um das königlichste aller Spiele, das populärste Brettspiel in Europa, das einzige Brettspiel, das als Sportart gilt, weltweit bekannt und gespielt.
Entsprechend weit über die Grenzen Berlins hinweg bekannt ist auch Lasker’s Schachhandel, wie Arno Nickels Geschäft offiziell heißt, benannt nach Emanuel Lasker, dem bisher einzigen deutschen Schachweltmeister. Denn es ist das einzige in Berlin verbliebene Schach-Spezial-Geschäft. Da macht es also gar nichts, dass der Laden selbst eher versteckt und unvermutet zwischen Autohäusern und Supermarktparkplätzen im Erdgeschoss eines alten Wohnhauses liegt und kaum vier Meter breit ist – die Kenner der Materie kennen auch den Laden. Und finden ihn. Und reisen bei Bedarf auch aus aller Welt an.
Wer das kleine Geschäft allerdings unbedarft betritt, wundert sich vielleicht kurz darüber, dass die linke Seite des Raumes komplett bis zur Decke mit Bücherregalen gefüllt ist, dort sieht es eher aus wie in einer Buchhandlung. Und das ist es im Grunde ja auch: Denn der Ursprung von Nickels Geschäft liegt in der Edition Marco, einem Verlag, den er 1983 kurzerhand gründete, um seinen heute populären und begehrten Schachkalender selbst herauszugeben. Das wollte damals nämlich keiner der etablierten Verlage tun. Nickel aber vertraute seinem Konzept und entwickelte in monatelanger Arbeit, mit viel redaktionellem Geschick und noch mehr Herzblut, das heute so beliebte Jahrbuch. Das beinhaltet neben dem obligatorischen Kalendarium Jahr für Jahr eine reiche Sammlung unterhaltsamer und für Schachfreunde interessanter Zusatzinformationen, Hintergründe, Anekdoten und Termine.
Den ersten Kalender hatte er damals quasi noch mit der Schreibmaschine produziert. Nun ist die 40. Ausgabe erschienen. Und sorgte prompt für Furore in der Schachgemeinde: Denn darin kündigt Nickel seinen Abgang an. Der Fernschach-Großmeister und in dieser Disziplin dreifacher Olympiasieger wird bald 70 Jahre alt und möchte aufhören. Nicht das Schachspielen freilich, aber doch die Geschäfte. Und die liefen gut. Diese Serie bei Netflix, „The Queens Gambit“, habe eine neue Welle der Schachbegeisterung ausgelöst, viele haben daraufhin angefangen, Schach zu spielen, weiß Nickel.
Täglich kommen Kunden, die einfach nur ein Schachspiel kaufen wollen. Ungefähr die Hälfte davon spielen im Verein (über 60 davon gebe es allein in Berlin) oder pflegen das Schachspiel als Hobby. Die andere Hälfte sind Einsteigende, Gelegenheitsspieler, die Spielmaterial haben möchten: Bretter und Figuren. An manchen Tagen hat er zehn Kunden, manchmal auch nur zwei, „aber manche lassen ja auch richtig Geld da“: Heute hat er mal eben Schachfiguren für 400 Euro verkauft. Das waren natürlich besondere Figuren, welche, die eher Liebhaber und Sammler nachfragen.
Der Variantenreichtum an Ausführungen des alten Brettspiels scheint dabei schier unendlich. Es ist wirklich für jeden Geschmack etwas dabei: Von ganz schlichten Figuren aus Glas oder Metall, kühl und minimalistisch gestaltet, bis hin zu aufwändig und detailverliebt ausgearbeiteten wie z.B. beim „Schachspiel der Götter“, einer hochwertigen Rarität mit künstlerisch gestalteten Porzellanfiguren und einem Schachbrett aus Gussmarmor. Für ein solches Schmuckstück kann man auch schon mal bis zu tausend Euro hinlegen, wenn man will … Schachvereine und Schulen hingegen kaufen bei ihm einfache Turnier-Faltbretter in der Größe 50 mal 50 Zentimeter mit Plastikfiguren.
„Dass Schach ein eigener Kosmos ist, kann man schon fast sagen, das sieht man schon daran, dass es Bibliotheken gibt, die weit über hunderttausend Schachbücher haben.“ Eine große Schachsammlung gebe es zum Beispiel in Den Haag und die weltgrößte mit über zweihunderttausend antiquarischen Titeln in Cleveland, weiß Nickel zu erzählen.
In seinen eigenen Regalen finden sich Bücher über die Geschichte des Schachs, Schachkomposition, Schachstudien, Schachtaktik, Biographien mit geschichtlichen Hintergründen, Partiensammlungen von berühmten Spielern, Trainingsliteratur, aber auch belletristische Werke, z.B. „Ein Kampf“ von Patrick Süskind oder Ulrich Geilmann mit „Petersburger Gambit“, eine Kriminalerzählung im Schachmilieu – auch für Nichtschachspieler, wie der Klappentext verrät. „Die Spezialliteratur ist eigentlich nur was für Vereinsspieler.“ Mit seiner Edition Marco bringt Nickel selbst anspruchsvolle Literatur heraus, hat in diversen Fachzeitschriften Artikel über Computerschach, Freestyle-Schach, Fernschach und zu historischen Themen veröffentlicht.
Und wie kam er selbst zum Schach?
„Mein älterer Bruder brachte es mir bei, als ich zwölf Jahre alt war. Ich war kurz davor, das Spielen aufzugeben, dann schlug ich ihn das erste Mal.“ Damit war seine Passion für das Spiel geweckt und blieb erhalten, begleitete ihn fortwährend, auch wenn er beruflich zunächst einen anderen Weg einschlug: Für das Studium von Geschichte und Politik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität kam der gebürtige Flensburger nach Berlin. Nach einer Phase der Orientierung beschloss er schließlich, lieber doch mit dem Schach sein Geld zu verdienen, als seine wissenschaftliche Karriere weiter zu verfolgen. Überhaupt war ihm die Freiheit immer wichtiger, einen Bürojob hätte er sich nicht vorstellen können. Und es war ihm nie wichtig, große Geschäfte zu machen, sondern gut zu leben.
Zum Fernschach kam er während seiner Jugendzeit im Internat: Dort gab es keine Gegner für ihn, so hat er kurzerhand mit dem Fernschach angefangen und ist dabei geblieben. Das Schöne dabei: Man spielt nicht unter Zeitdruck, sondern kann Tage brauchen und sogar alle verfügbaren Hilfsmittel nutzen, um den nächsten Zug zu beschließen. „Das ist eine besondere Disziplin, gewissermaßen der Marathon.“ Dadurch habe es übrigens die Olympiamannschaft der DDR geschafft, noch 1993 eine Medaille im Fernschach zu gewinnen, weiß er zu erzählen: Die Partie dauerte einfach so lange und obwohl die Mauer fiel, wurde der Wettkampf nicht abgebrochen.
Eigentlich hatte er damals, inspiriert vom Konzept der Wiener Caféhäuser, den Traum, ein Schach-Café zu eröffnen. Da diese Vision allerdings niemand teilen wollte, ließ er es doch lieber bleiben: Das finanzielle Wagnis mochte er nicht allein eingehen.
Und nun will er ganz gehen. Sich aus dem Geschäft zurückziehen und seinen Lebensabend genießen. Gepflegt mit Freunden in der Kneipe Schach spielen, ganz entspannt, ganz ohne sportlichen Ehrgeiz. Und gelegentlich weiter an Seniorenweltmeisterschaften teilnehmen – das verbindet er gern mit Reisen und Urlaub, ein-, zweimal im Jahr.
Und das Geschäft? Es wäre doch sehr schade, so ein spezielles Highlight im Kiez zu verlieren. Aber Arno Nickel ist zuversichtlich, einen Nachfolger zu finden: Der Laden sei gut eingeführt und schließlich auch der einzige in Berlin. Allein, mit dem Schachkalender könnte es schwieriger werden … Denn ob jemand anderes bereit sein wird, so viel Zeit, Idealismus und Engagement dort hinein zu stecken wie Arno Nickel? Für die Schachgemeinde bleibt das zu hoffen.
Lasker’s – der Schachladen
Sophie-Charlotten-Str. 28, 14059 Berlin
https://www.edition-marco-shop.de