Er ist womöglich einer der letzten seiner Art, auf jeden Fall aber war er einer der ersten … Und es ist nicht mehr lang hin, dann ist er weg: Platten Pedro mit seinem ersten Berliner Laden für Second-Hand Vinyl in Charlottenburg. Abschiedsbesuch bei einem Unikum.
„Wir haben keine CDs“ steht sicherheitshalber schon an der Eingangstür auf dem von Hand korrigierten Zettel mit den Öffnungszeiten. Der steckt in einer Sichthülle mit Lochrand und pappt von innen an der Scheibe. „Diebe, Vertreter und Schwätzer sind unerwünscht“ stellt er auch gleich klar, ansonsten sind aber offenbar alle willkommen, die Musik lieb haben, und das dürften in den vergangenen fast 53 Jahren so einige gewesen sein – und auch nicht bloß aus Berlin. Vielmehr hat sich Platten Pedro, der eigentlich Peter Patzek heißt, mit seinem Sortiment, einem schier unerschöpflichen Fachwissen und zweifellos auch seiner liebenswert schrulligen Art bis weit über die Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht.
Dabei muss man schon genau hingucken, um den kleinen Laden im Tegeler Weg 102 zu entdecken: Kaum drei Meter breit ist die unscheinbare Ladenfront in weißen Holzrahmen, hinter der sich seit 45 Jahren eines der berühmtesten Schallplatten-Antiquariate der Welt verbirgt. Diese Bezeichnung hat übrigens Pedro auch erst geschaffen, denn etwas Vergleichbares gab es bis dato im Berlin der Sechzigerjahre überhaupt nicht. Und bei Pedro gab es alles: Von Hiphop bis Marsch („für die ganz Kranken“), von Oper bis Punk, von PsychRock bis Walzer. Wohlgeordnet alles, versteht sich. Und wer sich trotz der eindeutigen Sortierung mittels handbeschriebener Pappkärtchen in den dicht bis unter die Decke bepackten Regalen nicht zurechtfand, brauchte Pedro bloß ein paar Takte des gewünschten Songs vor zu summen, und der wusste meistens, was gesucht wurde. Rock, Pop, Reggae, Jazz und Blues – er kennt sie alle.
„Liebe zur Musik ist da oder nicht da.“ Bei Pedro war sie da. Ganz früh. „Meine Mutter hat immer Radio jehört und dazu gepfiffen und Peterchen fand das toll”, erinnert er sich. Mit 13 bekam er dann von der Großtante ein Koffergrammophon geschenkt. Und ein paar Schallplatten dazu, damit ging es los. Dann kamen der Boogie und der Blues. „Ick hab schon Platten jesammelt, bevor der Rock’n’Roll überhaupt erfunden war.“ Damals schwänzte er oft die Schule und fuhr stattdessen zum Nordbahnhof in den Westen, Holzhacken bei einem Holz- und Kohlenhändler. Mit dem Geld, das er dort bekam (eine D-Mark für 20 Kisten Holz), ist er dann immer gleich in die nächste Wechselstube und anschließend in einen Plattenladen in der Schönhauser Allee.
Als die Schule vorbei war, lernte er zunächst Kupferschmied. Ein Freund seiner Mutter war Kupferschmiedemeister, da bot es sich einfach an. Gefallen hat ihm das nicht. Wäre der Freund aber Tischlermeister gewesen, hätte es womöglich nie einen Platten Pedro gegeben, denn Holz fasziniert ihn, mit Holz arbeitet er gern. Er hätte sich auch vorstellen können, Möbel zu bauen. Oder aber Liedermacher zu werden, Schlagersänger. „Ich war einer der siebzehn Elvis der Schönhauser Allee“, grinst er. Mit seinem Talent ist er dann irgendwann rüber in den Westen und in Kneipen aufgetreten. Er hat auch mal selbst was aufgenommen, 1967, bei Electrola. Seine dritte Single zusammen mit Howard Carpendale, der damals auch gerade anfing. Bei dem lief es anschließend besser, nun ja …
Da kam seine Frau auf die Idee, sie sollten doch einen Plattenladen eröffnen. 1969 war das, in Wilmersdorf. „Platten Professor Pedro“ hieß der damals noch und war Berlins bis dato einziges Vinyl- und Schellack-Antiquariat. Den Spitznamen hatte ihm Rolf Eden verpasst, in dessen Nachtclub er zuvor einige Zeit als DJ gejobbt hatte. Die Platten aus der Zeit waren der Grundstock für den Laden. Sie haben dann erstmal eine Weile angekauft … Seither ist Pedro spezialisiert auf gebrauchte Vinylscheiben. Zu Bestzeiten habe er rund eine Viertelmillion Platten in seinen Regalen gehabt. Ungefähr 30.000 davon Lieblingsplatten. Besonders alles um 1930 herum gefällt ihm: „Herr Ober, zwei Mokka, für Baby und für mich, dazu ein Stückchen Streuselkuchen …“, singt er unvermittelt und kichert.
Anfangs lief der Laden im Tegeler Weg gar nicht, da musste ein Nebenverdienst her, zumal er fünf Kinder zu versorgen hatte (einen eigenen Sohn und vier adoptierte). Also hat er nebenbei Räder für Rollstühle zusammengeschraubt, für die Deutschen Orthopädischen Werke. Am Ende 25 Jahre lang. „So kamen wa über de Runden und ick hab wenigstens noch wat für meine Rente jetan.“
Ein junger Mann kommt in den Laden, trägt einen Stapel Platten vor sich her. Ob Pedro mal drüber gucken wolle … Der guckt. Blättert. Braucht gar nicht lang: „Dit sieht nich jut aus. Die Capri Fischer …“ (singt wieder) „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt … Die Capri Fischer sind original mit Rudi Schuricke. Det is hier allet DDR-Zeugs, dat is weitaus schlimmer als Rudi Schuricke, sollteste verschenken wenn de Glück hast, ick müsste det entsorgen, kannste verjessen … “ Der junge Mann scheint überrascht und verabschiedet sich etwas irritiert.
Ja, Pedro kennt sich aus. Und ist auch immer mit der Zeit gegangen. Stellt sich nur ins Regal, was auch noch jemand haben will. Und keine CDs. Die „klingen schlecht und sehen scheiße aus. Nur Sondermüll mit Verpackung“, da ist er kompromisslos.
Heute ist von den über 100.000 Schallplatten nicht mehr viel übrig, die bis vor kurzem noch die einfachen Holzregale des kleinen Ladens füllten. Rund 60.000 Singles waren das und 40.000 LPs. Und dann kam jemand und hat sie alle gekauft, ein Berliner Internethändler. „Den interessierte nur dit Jeld, die Musik war dem völlich schnuppe“ konstatiert Pedro. Im Grunde ist er aber froh darüber. Denn so langsam muss er ja alles loswerden, selbst seinen Hausstand. „Ich ziehe zu meiner Freundin Susi ans Steinhuder Meer, nach Neustadt.“ Zwei Stereoanlagen sowie die wichtigsten 1000 Lieblingsalben sind schon dort. Darum finden sich nun neben den restlichen Platten (Tschaikowsky steht nun neben Ton Steine Scherben) diverse Trödelartikel in den verbliebenen Regalen: Eierbecher, Vasen, Porzellanfiguren, eine alte Küchenwaage, Bilder. Doch auch die locken Käufer: Ein Kleinhändler „aus der Ukraine“ stöbert herum, nimmt alles unter die Lupe, sucht nach Schnäppchen. „Solche Typen sind einer der Gründe, warum ick aufhöre, diese Abgreifer, wollen alles billig“ sagt Pedro stirnrunzelnd, als der Mann wieder draußen ist.
Bis 15. Dezember will er aus Berlin weg sein, rechtzeitig einen Tag vor seinem 80. Geburtstag. Den will er nämlich auf keinen Fall mit seiner Familie in Berlin verbringen. „Dit tue ick mir nich mehr an, acht Leute an eenem Tisch“ sagt er und lacht. Dass er tatsächlich schon so alt sein soll, sieht man ihm beim besten Willen nicht an.
Zum Abschied lädt er mich noch ein, ein Exemplar seines Buches mitzunehmen, ein kompaktes quadratisches Werk in dunklem Tannengrün: „Erzählungen der Historie & Imagepflege – Schallplattengeschichte(n)“ steht oben auf dem Titel, unten: „Platten Pedro’s Projekt“. Dazwischen ein Streifen aus lauter kleinen Plattencovern. „Allet jeklaut“ schmunzelt er. Dann singt er wieder: „You should have seen him, you would have seen his eye reflecting in the light … bam, bam!“ Seine Stimme klingt dabei schaurig und ich erkenne, was er meint: The Alan Parsons Project mit Tales of Mystery and Imagination: Edgar Allan Poe. „Was für eine geniale Platte, eine Jahrhundertplatte. Mit dem großartigen Arthur Brown als Sänger“ schwärmt er. Und da kann ich ihm nur beipflichten.
Schade, dass so einer den Kiez verlässt. Und wie schön, dass es so einen hier gegeben hat.